Der Hampelmann

Ein Weihnachtsbild aus dem Leben von Paul Bliß
in: „Slavonische Presse” (Esseg) vom 25.12.1898,
in: „Dresdner neueste Nachrichten” vom 05.12.1920 (hier: Ein Weihnachtsbild)


Der Hampelmann

Ein Weihnachtsbild aus dem Leben von Paul Bliß
in: „Slavonische Presse” (Esseg) vom 25.12.1898


Weihnachtsheiligabend.

Ein wirres Durcheinander auf den Straßen, Treiben und Drängen, Stoßen und Schieben. Jeder ist beladen mit Packeten. Dazu ein ohrenbetäubender Lärm. An Bord des Bürgersteigs stehen eng nebeneinander Verkäufer, Männer, Frauen und Kinder, die ihre Waren mit den hochtönendsten Worten anbieten. Und mitten durch schallt das Geläute der Pferdebahnen und die warnenden Rufe der Wagenführer, die freie Bahn für ihr Gefährt haben wollen.

Aber Keiner kümmert sich um den Anderen, Jeder sucht vorwärts zu kommen und stößt und drängt sich durch den Menschenknäul hindurch, — weiter nur, immer weiter — ein endloses Jagen und Hasten, ein Bild unseres nervösen Jahrhunderts.

Ein junges Ehepaar, beide in schwarz gekleidet, stehen abseits vom Gedränge und spähen danach, irgend ein leeres Gefährt zu bekommen. Der Gatte trägt ein kleines Tannenbäumchen, die Frau hat an einen breiten Träger wohl ein Dutzend kleiner Packetchen hängen. Endlich ergattern sie eine leere Droschke. Der Mann ruft dem Kutscher das Ziel zu, dann hinein und nun sausen sie, wie im Wind, dahin durch die belebten Straßen.

Die junge Frau hat sich zurückgelehnt in den Fond des Wagens, wie ermüdet schließt sie nun ein wenig die Augen, um nicht den Wirrwarr der Straße zu sehen.

„Ist Dir nicht wohl, Melanie?” fragte ihr Mann besorgt.

„Oh doch,” entgegnete sie leise, ohne die Augen zu öffnen, „nur der Lärmn verwirrt mich,” und noch leiser fügt sie hinzu, „und ich denke an Fritzchen .”

Stumm, herzinnig, drückt er ihre Hand.

Und weiter rast das Gefährt, — vorüber an den lärmenden Mengen, vorüber an Gaffern und Ausschreiern, vorüber an den bunten Auslagen der Geschäfte, — über Straßen und Plätze, weiter, immer weiter.

Und der laue Windhauch, der durch die Lüfte weht, führt der träumenden jungen Frau tausend kleine Geschichten zu, Erinnerungen aus der Vergangenheit, Erinnerungen an das Glück vergangener Tage, da in ihrem Heim ein dralles kleines Kerlchen herumkrabbelte, mit lallender Stimme nach Vater und Mutter rief, mit zitternden Händen und großen blauen Wunderaugen nach all' den schönen Sachen begehrte, die ihm der Weihnachtsmann aufgebaut hatte, — Erinnerungen an jene unvergeßlich schöne Zeit, da das Glück mit voller Hand seine Gaben ihmem gespendet hatte — — —. Aber das war einmal, nun war es längst vorbei, — mit rauher Hand hatte das Geschick eingegriffen und den blonden Liebling aus den Armen der Mutter gerissen — nun schlummerte er draußen auf dem Friedhof.

Weiter rast der Wagen in sausender E§ile.

Endlich ist das Ziel erreicht, — der Gottesacker. —

Das Ehepaar, beladen mit dem Christbäumchen und all' den kleinen Packetchen, durchschreitet die Reihen der Gräber, bis sie endlich vor einem kleinen epheugeschmückten Hügel Halt machen. Hier schlummerte ihr Fritzchen.

Und nun schmückt die trauernde Mutter ihrem todten Liebling den Weihnachtsbaum mit bunten Kerzen, Ketten und Sternen und blitzenden Glaskugeln, und unter den Baum legt sie die Kränze von Veilchen und Rosen, und Schalen mit blauen Vergißmeinnicht, und bunte Bilder und andere schöne Sachen, die ein Kinderherzchen erfreuen.

Der Vater steht dabei und sieht der rührigen Hand seines Weibes zu, und während er so in Nachdenken versunken dasteht, wird auch in ihm alles Vergangene wieder wach, und ein paar Thränen stehlen sich ihm in die Augen und rollen über die Backen in den Bart hinab — —

Und keine fünfzig Schritte davon hockt an einem Grabe ein kleines hageres bleiches Bürschchen, das mit grünen Tannenzweigen und bunten Papierblumen einen Hügel schmückt, — der Liebesdienst eines Kindes für die todte Mutter.

Aber das Bürschchen ist aufmerksam geworden auf die bunten Herrlichkeiten, mit denen der kleine Kinderhügel drüben ausgeschmückt wird, und deshalb kommt es nun herangeschlichen, schüchtern und zaghaft, wie Kinder der Armuth sind, und lugt mit großen neugierigen Augen nach dem bunten Schmuck hin.

Plötzlich wendet der Mann sich um und erblickt den erstaunt dastehenden Knaben.

„Nun, Kleiner, komm doch heran, wenn Du es sehen willst.”

Starr blickt der Kleine hin, rührt sich aber nicht vom Fleck.

„Komm nur, mein Jungchen, komm heran.”

Jetzt sieht sich auch die Mutter nach dem Knaben um.

„Hab'keine Angst, Kerlchen,” ruft sie freundlich, „ kannst getrost herkommen zu uns.”

Endlich kommt das Bürschchen schüchtern heran.

„Wie heißt Du denn?” fragt der Mann.

„Fritz Wolter.”

„Und warum bist Du so allein hier?”

„Ich hab' die Mutter besucht — drüben das Grab mit den rothen Rosen — die Blumen sind von Papier, die hab' ich allein gemacht, und die Tannenzweige hab' ich mir schenken lassen.”

„Hast Du keinen Vater oder andere Angehörige mehr, mein Jungchen?” fragt die Frau.

Der Knabe verneint: „Nein, Niemand.”

„Bei wem bist Du denn?”

„Der alte Schuster Schmidt hat mich angenommen, als die Mutter starb.”

„Ist er gut zu Dir?”

Mit thränendurchzitterter Stimme antwortete der Knabe: „Wenn ich jeden Tag was verkaufe und Geld mitbringe, dann ist er gut, wenn ich aber ohne Geld heimkomme, kriege ich Keile und muß hungern.”

Darauf langte der Mann ins Poremonnaie und gab dem Kleinen eine Münhze: „Hier, das schenke ich Dir zu Weihnachten, Fritz. Weißt Du auch, wieviel das ist?&rdquoi;

Mut glänzenden Augen lächelte der Knabe: „Ein Thaler ist es!” rief er, bedankte sich und lief jubelnd davon.

Wehmüthig sahen die trauernden Eltern ihm nach.

„So groß könnte unser Fritzchen jetzt auch schon sein,” sagte leise die Frau.

Der Mann nickte nur.

*           *           *

Drei Stunden später.

Die Dunkelheit ist hereingebrochen, aber die Straßen sind taghell erleuchtet, denn aus allen Schaufenstern fluthet blendende Lichtfülle hervor. Das Gewirr auf den Straßen ist noch lebhafter geworden. Jeder eilt, vollbeladen mit Packeten, nach Hause zur Bescherung.

Das Wetter hat sich geändert, leichter Frost ist eingetreten und ein scharfer Wind weht ganz feinen Schnee mit her.

Am lebhaftesten ist das Menschengedränge in der Friedrichstraße. Dort ist auch der Lärm der Straßenhändler am lautesten. Jeder sucht den Anderen zu überbieten durch originelle Anpreisung seiner Waren.

Ganz versteckt, im Schatten eines Portals, steht der kleine Fritz Wolter mit einem Arm voll Papierpuppen, und mit kaum hörbar dünnem Stimmchen ruft er unausgesetzt: „Einen Sechser der Hampelmann!”

Aber Niemand sieht und hört ihn, achtlos gehen Alle an dem kleinen, frierenden Kerl vorüber. Manchmal wagt er einen kleinen Vorstoß nach dem Bord des Bürgersteiges hin, aber kaum steht er dort, so kommen drei große Lümmel angerannt, die auf ihn loshauen mit den Worten: „Schlagt doch den Hampelmann todt!” ihn wieder in seine dunkle Ecke zurückjagen. Wie allerorten im Leben, so auch hier: im Kampf um's Dasein schlägt der Große den Kleinen.

Und der kleine Fritz verkriecht sich dann wieder ängstlich und ruft wieder mit zitternder, dünner Stimme sein momotones: „Nur einen echser der Hampelmann! bitte, kaufen Sie doch! einen Sechser nur!”

Aber soviel er auch bittet und fleht, es hört ihn Niemand. Da endlich übermannt die Angst vor dem Pflegevater den kleinen Kerl, zitternd denkt er daran, wenn er heimkommt und all seine Ware wieder mitbringt. Und im Vorgefühl der Prügel, die seiner harren, beginnt er kläglich zu wimmern.

Plötzlich steht Jemand vor ihm.

„Aber Fritz, warum weinst Du denn?”

Mit thränenfeuchten Augen sieht der Knabe auf und erkennt den Mann, der ihn auf dem Friedhofe mit einem Thaler beschenkt hatte.

„Nun, was fehlt Dir?”

Wimmernd antwortete der Kleine; „Ich habe noch gar nichts verkauft.”

„Aber ich habe Dir doch einen Thaler geschenkt.”

Der Kleine wird roth und schweigt verlegen.

„Nun, wo hast Du denn das Geld gelassen?”

Und weinend antwortete der Kleine: „Den Thaler hab' ich Muttern beschert, auf dem Grabe liegt er.”

Da hob der Mann den kleinen Kerl auf und drückte ihn an sich und küßte ihn, und dann stieg er mit ihm in eine Droschke und fuhr nach Hause — — —

Von dem Tage an ist der kleine Fritz das Adoptivkind der kinderlosen Eheleute geworden.

— — —


Ein Weihnachtsbild.

Von Paul Bliß.
in: „Dresdner neueste Nachrichten” vom 05.12.1920


Weihnachtsheiligabend.

Ein Durcheinander auf den Straßen, Treiben und Stoßen. Jeder ist beladen mit Paketen. Dazu ein betäubender Lärm. An Bord des Bürgersteigs stehen Verkäufer, die ihre Waren mit den hochtönendsten Worten anbieten.

Aber keiner kümmert sich um den andern, jeder sucht vorwärts zu kommen und stößt und drängt sich durch den Menschenknäul hindurch.

Ein junges Ehepaar, beide in Schwarz gekleidet, steht abseits und spähen danach, ein leeres Gefährt zu bekommen. Der Gatte trägt ein kleines Tannenbäumchen, die Frau hat an einen breiten Träger wohl ein Dutzend kleiner Paketchen hängen. Endlich ergattern sie eine Droschke.

Die Frau hat sich zurückgelehnt in den Fond des Wagens, wie ermüdet schließt sie die Augen.

„Ist dir nicht wohl, Melanie?” fragte ihr Mann besorgt.

„O doch,” entgegnete sie leise, „ich denke an Fritzchen.”

Stumm drückt er ihre Hand.

Weiter fährt der Wagen.

Endlich ist das Ziel erreicht, — der Friedhof.

Das Ehepaar mit dem Christbäumchen und all' den kleinen Paketchen durchschreitet die Reihen der Gräber, bis es endlich vor einem kleinen efeugeschmückten Hügel Halt macht. Hier schlummert ihr Fritzchen.

Und nun schmückt die trauernde Mutter ihrem toten Liebling den Weihnachtsbaum mit bunten Kerzen, Ketten und blitzenden Glaskugeln, und unter den Baum Schalen mit blauen Vergißmeinnicht und andere schöne Sachen, die ein Kinderherzchen erfreuen.

Der Vater sieht der rührigen Hand seines Weibes zu und ein paar Thränen rollen in den Bart.

Und keine fünfzig Schritte davon hockt an einem Grabe ein kleines hageres, bleiches Bürschchen, das mit grünen Tannenzweigen und bunten Papierblumen einen Hügel schmückt, — der Liebesdienst eines Kindes für die tote Mutter.

Aber das Bürschchen ist aufmerksam geworden auf die bunten Herrlichkeiten, und deshalb kommt es nun herangeschlichen, zaghaft, wie Kinder der Armuth sind.

Plötzlich wendet der Mann sich um und erblickt den erstaunt dastehenden Knaben.

„Nun, Kleiner, komm doch heran.”

Jetzt sieht sich auch die Mutter nach dem Knaben um.

„Hab'keine Angst,” ruft sie freundlich, „ kannst getrost herkommen zu uns.”

Endlich kommt das Bürschchen schüchtern heran.

„Wie heißt Du denn?” fragt der Mann.

„Fritz Wolter.”

„Und warum bist Du so allein hier?”

„Ich hab' die Mutter besucht — drüben das Grab mit den rothen Rosen — die Blumen sind von Papier, die hab' ich allein gemacht, und die Tannenzweige hab' ich mir schenken lassen.”

„Hast du keinen Vater, mein Jungchen?” fragte die Frau.

Der Knabe verneint: „Niemand.”

„Bei wem bist du denn?”

„Der alte Schmidt hat mich angenommen, als Mutter starb.”

„Ist er gut zu dir?”

Mit thränendurchzitterter Stimme antwortet der Knabe: „Wenn ich jeden Tag was verkaufe und Geld bringe, dann ist er ganz gut, wenn ich aber ohne Geld komme, kriege ich Keile und muß hungern.”

Darauf langt der Mann ins Poremonnaie und gibt dem Kleinen einen Schein. „Hier, das schenke ich dir zu Weihnachten, Fritz. Weißt du auch, wieviel das ist?&rdquoi;

Mut glänzenden Augen lächelt der Knabe: „Fünf Mark!” rief er, bedankt sich und läuft jubelnd davon.

Wehmüthig sehen die trauernden Eltern ihm nach.

„So groß könnte unser Fritzchen jetzt auch schon sein,” sagt leise die Frau.

Der Mann nickt nur.

*           *           *

Drei Stunden später. Die Straßen sind heute hell erleuchtet. Das Gewirr ist noch lebhafter geworden. Jeder eilt nach Hause zur Bescherung.

Ganz versteckt, im Schatten eines Portals, steht der kleine Fritz Wolter, hat einen Arm voll Papierpuppen, und mit kaum hörbar dünnem Stimmchen ruft er unausgesetzt: „Zehn Pfennig der Hampelmann!”

Aber niemand hört auf ihn, achtlos gehen alle vorüber. Manchmal wagt er einen kleinen Vorstoß nach dem Bord des Bürgersteiges hin, aber sofort kommen drei große Lümmel angerannt, die ihn wieder in seine dunkle Ecke zurückjagen.

Fritz verkriecht sich dann wieder ängstlich und ruft mit dünner Stimme sein momotones: „Hampelmann! Bitte, kaufen Sie doch! Zehn Pfennig nur!”

Aber es hört ihn niemand. Da übermannt die Angst den kleinen Kerl. Und im Vorgefühl der Prügel, die seiner harren, beginnt er zu wimmern.

Plötzlich steht jemand vor ihm.

„Aber Fritz, warum weinst du denn?”

Mit tränenfeuchten Augen sieht der Knabe auf und erkennt den Mann, der ihn auf dem Friedhof heute beschenkt hatte.

„Nun, was fehlt dir?”

Wimmernd antwortet der Kleine; „Ich habe noch gar nichts verkauft.”

„Aber ich habe dir doch fünf Mark geschenkt.”

Der Kleine wird roh und schweigt verlegen.

„Nun, wo hast du denn das Geld gelassen?”

Und weinend antwortet er: „Das hab ich Muttern beschert, auf dem Grabe liegt es.”

Da hebt der Mann den kleinen Kerl auf, drückt ihn an sich und küßt ihn, und dann steigt er mit ihm in eine Droschke und fährt nach Hause — — —

Von dem Tage an ist der kleine Fritz das Adoptivkind der kinderlosen Eheleute geworden.

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